Gewalt in der Pflege nimmt zuVon Michael BrandtBremen. Gewalt in der Pflege - ein bisher weitgehend tabuisiertes Thema. Demente Angehörige, Menschen auf Pflegestationen und weitere Schutzbedürftige, die auf Hilfe angewiesen sind, werden immer wieder zu Opfern. 39 Fälle verzeichnet die Bremer Polizeistatistik für das Jahr 2009. Nähere Erkenntnisse über die Höhe der Dunkelziffer gibt es nicht. Am morgigen Dienstag liegt dem Senat ein ausführlicher Bericht zu diesem Thema vor.
Die Grünen, namentlich der Sozialpolitiker Horst Frehe, hatten einen Fragenkatalog an den Senat gerichtet. Die Fraktion macht darin auf eines der Kernprobleme aufmerksam: Für Menschen, die sich in der Abhängigkeit einer Pflegebeziehung befinden, ist es besonders schwierig, auf ihre Notlage aufmerksam zu machen. Frehe hält angesichts der steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen eine öffentliche Debatte über Gewalt in der Pflege für notwendig.
Befragung unter PflegekräftenDie Unterlagen für die Regierungssitzung legen den Schluss nahe, dass die Zahl der tatsächlichen Vorkommnisse weit höher liegt, als die Polizeistatistik wiedergibt. Dort sind für die vergangenen Jahre mal 32 Fälle verzeichnet, mal 27, mal 39. In den allermeisten Fällen sind Opfer und Täter miteinander verwandt. Doch auch professionelle Pflege schließt Gewalt nicht aus. Der Senat verweist in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Das Institut hatte 500 ambulant tätige Pflegekräfte befragt. 40 Prozent hätten zugegeben, heißt es, sich im Verlauf eines Jahres 'problematisch gegenüber Pflegebedürftigen' verhalten zu haben.
'Es gibt keine Zahlen, das hat mich verwundert', sagt Horst Frehe zum vorläufigen Bericht. Er geht davon aus, dass das Dunkelfeld groß ist. 'Offensichtlich ist das Problem, dass Gewalt nicht aufgedeckt wird. Jeder weiß, dass mehr passiert.' Gerade, wenn man einen erweiterten Gewaltbegriff anwende, 'wird es wesentlich mehr geben'. Sein Vorschlag deshalb: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung sollte in die Erhebung der Fallzahlen eingebunden werden. Der Medizinische Dienst überprüft zum Beispiel die Pflegebedürftigkeit von Menschen und ist auch für die Kontrolle von Qualitätsstandards in den Einrichtungen zuständig.
Die Gesundheitsbehörde verwendet den erwähnten erweiterten Gewaltbegriff: Für das Amt schließt Gewalt in der Pflege nicht nur körperliche Misshandlungen ein, sondern zum Beispiel auch Vernachlässigung. Das Spektrum reicht bis hin zu finanzieller Ausbeutung. In den Senatsunterlagen heißt es: 'In der Beratung und auch bei öffentlichen Fachveranstaltungen berichten immer wieder Angehörige, dass ihnen angesichts der Belastung die Hand ausgerutscht sei, eine ungewollte Reaktion, die in der Regel mit Entsetzen und Trauer über das eigene Verhalten einhergeht.' Demenz gilt als einer der Faktoren, der die stärkste Belastung für die Beziehungen darstellt. Laut Gesundheitsbehörde leben in Bremen allein 7500 Menschen, die mittelschwer bis schwer an Demenz erkrankt sind. Zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt.
Forum bereitet Fachtag vorAdele Ihnen spricht für das
'Bremer Forum gegen Gewalt in Pflege und Betreuung', das bei der Unabhängigen Patientenberatung angesiedelt ist. Zum Forum gehören beispielsweise die AOK, das Diakonische Werk, die Lebenshilfe und der Verein für Innere Mission. Ziel des Zusammenschlusses ist es, die Diskussion zu diesem Bereich in verschiedenen Formen voranzutreiben. Zwei Broschüren sind bereits vergriffen, jetzt entwickelt ein Seniorentheater Szenen, die wachrütteln sollen.
Die Sprecherin des Forums ist überzeugt, dass sich Menschen, die beruflich mit der Pflege zu tun haben, immer wieder für dieses Thema sensibilisieren müssten. Das Forum bereitet aktuell einen Fachtag vor, der sich an Leitungskräfte in der Pflege richtet. Dabei soll es darum gehen, den Blick zu schärfen für Formen der Gewalt, die nicht sofort offensichtlich sind. 'Es gibt sehr viele subtile Möglichkeiten, Gewalt auszuüben', warnt Adele Ihnen.
Neben dem Forum gibt es eine Reihe von Beratungs- und Hilfsangeboten, zum Beispiel eine Not-Telefonnummer der 'Demenz Informations- und Koordinationsstelle' für pflegende Angehörige. Nach Einschätzung von Gesundheitssenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) ist das derzeitige Angebot in Bremen der Situation angemessen. 'Aber der Bedarf wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zunehmen', sagt sie. Die Rechnung ist ganz einfach: Mit der steigenden Zahl derer, die Pflege brauchen, wird auch die Zahl der Gewalt-Vorfälle zunehmen.
Rosenkötter setzt auf Prävention. Ihrer Meinung nach muss der Rahmen, in dem professionelle Pflegekräfte und pflegende Angehörige arbeiten, entsprechend gestaltet sein. 'Wir müssen Situationen vermeiden, in denen Pflegende überfordert sind, und so die Risiken verringern.' Außerdem spricht sie sich für verstärkte Fortbildung zum Thema Gewalt in der Pflege aus. 'Wir brauchen ausreichend und gut ausgebildete Pflegekräfte.' Gewalt müsse ein Thema in dieser Ausbildung bleiben.
Die Sozialministerkonferenz hat auf Bremer Initiative hin 2009 die Forderung aufgestellt, dass pflegebedürftige Menschen besser geschützt werden müssten. Teil des Beschlusses war auch, dass eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt werden soll. Das Ressort von Ingelore Rosenkötter bemängelt aber aktuell: 'Bisher hat sich der Bund geweigert, die Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen.'
Quelle: www.weser-kurier.de