Im Minutentakt
Die Betreuung Pflegebedürftiger ist für die Kommunen ein lästiger Kostenfaktor und für private Anbieter eine Goldgrube. Verlierer sind Patienten und BeschäftigteRainer BalcerowiakBertha W. (*) hat Glück. Zweimal in der Woche bekommt die stark in ihrer Mobilität eingeschränkte und leicht verwirrte Frau Besuch von Ralph K. (*). Der arbeitslose Kunstpädagoge ist als »Ein-Euro-Jobber« bei einem freien Träger eingesetzt und besucht pflegebedürftige Menschen. Mal geht er mit
ihnen spazieren, mal sitzt er in der Küche und unterhält sich oder erledigt alltägliche Besorgungen. Die professionelle Pflegekraft, die die 84jährige Frau versorgt, hat dafür keine Zeit und ist in der Regel froh, wenn sie die vorgegebenen Betreuungsleistungen in der veranschlagten Zeit schafft, denn ihr Tagesplan ist äußerst verdichtet.
Wer ausschließlich auf die Leistungen aus der Pflegeversicherung angewiesen ist und nicht über größere Einkünfte verfügt, muß mehr als nur seine gesundheitlichen Einschränkungen ertragen. Der Leistungskatalog der Pflegeversicherung nach Kapitel 11 des Sozialagesetzbuches ist gnadenlos. Jede Dienstleistung von »Waschen, Duschen, Baden« bis »Trennen und Entsorgen des Abfalls« ist genau definiert, auch zeitlich. Welche Leistungen gewährt werden, entscheidet der medizinische Dienst der Kranken- bzw. Pflegekassen.
Das zeitliche Gesamtvolumen beträgt in der Pflegestufe 1 90 Minuten pro Tag, aufgeteilt in »Grundpflege« und »Hauswirtschaft«. Jeder Handgriff ist terminiert: Umlagern darf ebenso wie »mundgerechte Zubereitung der Nahrung« zwei bis drei Minuten dauern, deren Verabreichung immerhin zwölf bis 15, und fürs komplette Ankleiden sind acht bis zehn Minuten vorgesehen.
Was nicht bewilligt wurde oder »nicht verordnungsfähig« ist, muß extra bezahlt werden. Auch hier bieten die Pflegedienste exakt kalkulierte Pakete an. Meist werden Fünf-Minuten-Takte à 2,20 Euro abgerechnet, beispielsweise für Kleidungsreparatur, Blumenpflege oder Briefkasten leeren. Den Weg zur Post oder Bank gibts für drei Euro pauschal, und für die »Hilfe bei Festlichkeiten« werden pro angefangener Viertelstunde 6,60 Euro fällig. Wohl dem, der über eine auskömmliche Rente verfügt oder Verwandte hat, die ihn unterstützen.
In Pflegeheimen ist die Situation oftmals nicht besser - im Gegenteil. Die Kommunen wollen die Kosten für die Unterbringung von stationär Pflegebedürftigen senken, denn sie müssen für die Differenz zwischen den Pflegesätzen und den Gesamtkosten für einen Heimplatz aufkommen, wenn der Patient oder seine nächsten Angehörigen nicht über die nötigen Mittel verfügen. Bei den Einrichtungen hat das eine ungeheure Dumpingspirale in Gang gesetzt. Die Pflege muß auf Teufel komm raus verbilligt werden. Dafür werden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Angelernte Kräfte ersetzen examiniertes Personal, Betreuungsschlüssel werden verschlechtert. Zunehmend werden tarifgebundene öffentliche Träger durch gewerbliche Anbieter verdrängt. Das System der Fallvergütung nach Pflegesätzen beinhaltet eine weitere Perversion. Keine Einrichtung kann aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein Interesse daran haben, daß sich der Zustand eines Bewohners so stark verbessert, daß er in eine niedrigere Kategorie eingestuft wird.
Erfolgreiche aktivierende und rehabilitative Pflege bedeutet für das Heim weniger Einnahmen, während die Verschlechterung des Zustandes und die dann mögliche Einstufung in eine höhere Pflegekategorie bares Geld bedeutet.Bares Geld verdienen auch viele Investoren, denn Pflege ist einer der Zukunftsmärkte schlechthin. Rein statistisch hat dieser Boom mittlerweile zu einer »Überversorgung« geführt. 10400 stationäre Pflegeeinrichtungen mit insgesamt 757000 Plätzen gab es Ende 2005 in Deutschland. Die
durchschnittliche Auslastung sank auf 89 Prozent und beträgt in einigen Landkreisen nur noch rund 70 Prozent. Bereits 38 Prozent der Einrichtungen werden mittlerweile von gewerblichen Anbietern wie der Dussmann-Gruppe oder der Curanum AG betrieben. Die Kommunen sind nur noch mit sieben Prozent vertreten, der Rest verteilt sich auf gemeinnützige Träger wie Wohlfahrtsverbände und Kirchen.
Für Konzerne wie die Curanum AG eine komfortable Situation. In ihrem Geschäftsbericht für 2006 heißt es: »Für die Bewohner und ihre Angehörigen stellt der zunehmende Wettbewerb zweifellos einen Vorteil dar zumal (..) die Preise tendenziell niedriger sind.«
Die Leistungen allerdings auch, wie der jüngst veröffentlichte Bericht der medizinischen Dienste der Kranken- und Pflegekassen verdeutlicht. Das Gegenstück zur »Überversorgung« sind mangelernährte und wundgelegene Patienten in vielen Einrichtungen. Und längst ist ein neuer Hebel in Bewegung gesetzt worden, um die Pflegequalität in stationären Einrichtungen weiter abzusenken. Durch die Föderalismusreform bekommen die Länder »mehr Gestaltungsmöglichkeiten« bei der Festlegung von Mindeststandards. »Es wird nun die Möglichkeit geben, z.B. bei der Personalausstattung oder den Mindestanforderungen im Bau zu differenzieren und damit auch die künftigen Pflegekosten zu beeinflussen«, frohlockt der Curanum-Vorstand. Man erwarte, »daß der mögliche Spielraum(..) ausgenutzt werden wird«.(*) Namen von der Redaktion geändertQuelle: www.jungewelt.de - 07.09.2007 / Schwerpunkt / Seite 3 (Mit freundlicher Genehmigung)