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Infos + Meinungsaustausch (Forum) => Recht => Thema gestartet von: admin am 21. September 2013, 17:07



Titel: Wahlen, Wahlrecht und Wahlsysteme
Beitrag von: admin am 21. September 2013, 17:07
Dürfen unter Betreuung stehende Menschen wählen?

Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in dem Beschluss vom 23. 6. 1999 - 1 BvL 28/97 eindeutig Stellung bezogen. Demnach ist es nur vollständig unter Betreuung stehenden Personen verwehrt, das Wahlrecht ausüben zu können. [lesen >>] (http://lexetius.com/1999,1610)   -   Quelle: http://lexetius.com/1999,1610



Zitat
Dürfen Menschen, die unter Betreuung stehen, wählen?

In regelmäßigen Abständen sind alle Wahlberechtigten in unserer Demokratie dazu aufgerufen, sich mit den Positionen der Parteien auseinanderzusetzen und diejenigen zu wählen, die ihre Überzeugungen und Interessen am besten vertreten. Das Recht, aktiv zu wählen, hat jeder deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz im Wahlgebiet, der das Mindestalter von 18 Jahren erreicht hat (bei manchen Wahlen auch 16).

Von dieser tragenden Säule der Demokratie soll es nur wenige Ausnahmen geben, damit möglichst alle Personengruppen und Strömungen vertreten werden und die Vertreter bestenfalls eine gemeinsame politische Richtung aushandeln. Allerdings herrscht noch vielfach Unsicherheit darüber, ob eine Person, die unter Betreuung steht, wahlberechtigt ist.

Hintergrund
Bis zu Beginn des Jahres 1992 hatten Personen, die unter Vormundschaft oder Gebrechlichkeitspflegschaft standen, kein Wahlrecht. Der Leitgedanke hinter diesem Ausschluss war, dass der Wähler selbstständig sein soll. Aus demselben Grund werden bis heute Kinder von der Wahl ausgeschlossen. Ein pauschaler Ausschluss dieser gesamten Personengruppe steht aber im Gegensatz zum Grundsatz der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und unseren Vorstellungen von Diskriminierung. Mit dem Betreuungsgesetz hat man sich 1992 darauf geeinigt, dass die Einrichtung einer Betreuung grundsätzlich nicht das Wahlrecht berührt.

Grundsätzlich können also auch alle Personen, die unter Betreuung stehen, an Wahlen teilnehmen. Im Bundeswahlgesetz (BWahlG) und in den Wahlgesetzen der Länder gibt es für unter Betreuung stehende Wahlberechtigte also keine Einschränkung des Wahlrechts. Ganz im Gegenteil ist in § 12 BWahlG geregelt, dass jeder Deutsche wahlberechtigt ist. Von der Wahl kategorisch ausgeschlossen sind nach § 13 BWahlG nur solche Personen, denen durch einen Richterspruch das Wahlrecht entzogen wurde. Die frühere Regelung, wobei auch Personen, die unter vollständiger Betreuung stehen, nicht wählen durften, wurde aufgegeben.

In § 14 des BWahlG gibt es nun Regelungen dazu, wie die Wahl auszuüben ist. So ist in § 14 Abs. 4 BWahlG geregelt, dass die Wahl nur persönlich durchgeführt werden darf. Das schließt die Wahl durch einen Vertreter oder einen Betreuer also kategorisch und vollkommen zu Recht aus, wie dies auch ausdrücklich geregelt ist.

In § 14 Abs. 5 BWahlG gibt es nun Regelungen für Menschen mit Behinderungen. Diese dürfen sich, wenn sie ansonsten nicht an der Wahl teilnehmen können, einer anderen Person bei der Durchführung der Wahl bedienen. Die Vorschrift regelt aber ausdrücklich, dass es hier nur um eine technische Hilfe gehen kann. Die Wahlentscheidung muss der Wahlberechtigte selbst treffen und artikulieren, entweder durch eine mündliche Äußerung oder auch das Zeigen auf den Wahlzettel. Kann er beides nicht mehr, dann kann er auch sein Wahlrecht nicht mehr ausüben.

Unzulässig ist nach der gesetzlichen Regelung eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert oder wenn ein Interessenkonflikt der Hilfsperson besteht. Die Hilfeperson darf dem Wahlberechtigten also keine bestimmte Wahl einflüstern, oder das Kreuz an einer anderen Stelle als vom Wahlberechtigten vorgegeben machen. Ein Interessenkonflikt besteht etwa bei Hilfspersonen, die gewählt werden wollen. Hier hängt die fehlende Wahlberechtigung merkwürdigerweise nicht mit der Behinderung zusammen, sondern ist in einer Eigenschaft der Hilfsperson begründet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass auch unter Betreuung stehende, geistig oder körperlich Behinderte Menschen an Wahlen teilnehmen dürfen, wenn Sie nur in der Lage sind, ihren Willen selbständig zu bilden und/oder diesen selbständig zu artikulieren. Das die Abgrenzung zur unselbstständigen Willensbildung schwierig ist, sollte nicht dazu führen, dass im Zweifelsfall dieser Person keine Wahl gestattet wird, sondern ganz im Gegenteil sollte die Wahl auch in Zweifelsfällen möglich sein. Im Streitfall müsste das die Wahlleitung entscheiden.

Übrigens gelten diese Wahlgrundsätze bei allen demokratisch durchzuführenden Wahlen, also auch bei der Wahl eines Heimbeirats.
Quelle:  BIVA.de - 23.10.23 | Zul. geändert: 23.10.23



Weitere Infos:
- https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahlrecht
- http://www.wahlrecht.de


Titel: Re: Wahlen, Wahlrecht und Wahlsysteme
Beitrag von: admin am 02. Juli 2024, 21:30
Zitat
Nachlese zur Europawahl
Wahlrecht in Pflegeheimen:
Ein schwieriger Fall in Bremen


Barbara Schimpf, eine Pflegeheimbewohnerin, hat seit vier Jahren nicht mehr gewählt. Ihre Schwester beschuldigt das Heim, das Wahlrecht zu verwehren. Doch die Angelegenheit ist komplizierter, als es scheint.

Von Timo Thalmann, 22.06.2024, 05:00 Uhr

Seit vier Jahren lebt die heute 81-jährige Barbara Schimpf im Curanum-Pflegeheim in Findorff. Sie ist schwer lungenkrank, kann nicht mehr laufen und ist in vielfacher Weise auf Hilfe angewiesen. Dement ist die alte Frau nicht, dennoch hat sie seit 2020 einen gesetzlichen Betreuer. Wegen all dem hat sie seitdem an keiner Wahl mehr teilnehmen können, auch die jüngste Europawahl  (https://www.weser-kurier.de/thema/europawahl-q1128324/)fand ohne ihre Stimmabgabe statt. "Wir wählen hier ja nicht mehr", sagt sie. Und nein, Wahlbenachrichtigungen habe sie seit ihrem Einzug im Heim noch nie bekommen.

Ihre jüngere Schwester Pia Richter, die als Verwandte regelmäßig den Kontakt pflegt, hat deshalb jetzt die Bremer Wohn- und Betreuungsaufsicht (WBA) als Kontrollbehörde informiert. "Das geht doch nicht, dass den Leuten im Heim ihr Wahlrecht  (https://www.weser-kurier.de/thema/wahlrecht-q185387/)vorenthalten wird", findet sie.

Pflegeheim und Betreuer sehen sich gegenseitig in der Pflicht

Doch der Verdacht, dass die Einrichtung vorsätzlich oder gar systematisch verhindert, dass die Bewohner an Wahlen teilnehmen, ist schnell ausgeräumt. Laut WBA wurde von der Heimleitung sogar für die Wahl geworben, wobei offenbleibt, wie das praktisch aussah. Die Heimleitung teilt auf Anfrage des WESER-KURIER mit, die Wahlbenachrichtigungen würden selbstverständlich wie jede andere Post entweder an die Bewohner oder je nach Vereinbarung an Bevollmächtigte oder Betreuer weitergeleitet. Dass das tatsächlich so ist, zeigt eine Rückfrage beim Wahlamt. "Wir haben in der betreffenden Einrichtung 71 Bewohnern die Wahlbenachrichtigung geschickt, davon haben 16 anschließend eine Briefwahl beantragt", sagt Carola Janssen von der Behörde. Die Mitteilungen müssen also angekommen sein.

Warum Barbara Schimpf keinen Brief erhalten hat, bleibt unklar. Mutmaßlich wurde die Wahlbenachrichtigung vom Heim an die gesetzliche Betreuerin weitergeleitet, die dann aber nicht reagiert hat. "Sofern einzelne Bewohner bei einer Wahl Unterstützung benötigen, muss dies von den Bevollmächtigten oder Betreuern veranlasst werden", heißt es dazu in der Stellungnahme des Pflegeheims. Die Betreuerin sieht hingegen laut Richter das Heim in der Pflicht, eine Teilnahme an der Wahl zu ermöglichen, falls notwendig auch mit Begleitung und Unterstützung in der Wahlkabine.

Pflegeheim im Irrtum

"Wir dürfen bei der Wahl nicht personell unterstützen, da eine Wahl geheim sein muss", heißt es dazu von der Heimleitung. Ein klarer Irrtum sagt das Wahlamt: "Wahlberechtigte, die wegen einer Behinderung an der Abgabe der Stimme gehindert sind, können sich der Hilfe einer anderen Person bedienen", betont Janssen. Das müsse auch nicht der gesetzliche Betreuer sein, sondern "jede Person des Vertrauens" könne das übernehmen. Pflegekräfte bei der Briefwahl sind also ebenso denkbar wie die Wahlhelfer im Wahllokal. Man darf nur nicht den Wählerwillen manipulieren.

Reinhard Leopold, Bremer Regionalbeauftragter des Biva-Pflegeschutzbundes, kennt diese Probleme seit Langem. "Uns erreichen eigentlich nach jeder Wahl Hinweise, dass Pflegeheimbewohner nicht daran teilnehmen konnten", sagt der Interessenvertreter der Bewohner. Das sei in den seltensten Fällen böser Wille oder Vorsatz, sondern häufig die Folge von Unwissenheit auf allen Seiten. Leopold erinnert sich an einen besonders krassen Fall bei der Bundestagswahl 2017 in Bremen: Da wollte ein 92-jähriger blinder Mann wählen, hatte aber keine Wahlbenachrichtigung erhalten. Es stellte sich heraus, dass er noch in einem Wahllokal an seinem früheren Wohnort am anderen Ende der Stadt registriert war. Für den Weg hätte er eine Begleitperson und vor allem vor Ort seinen Personalausweis benötigt. Der aber lag im Tresor des Heimes, für den am Wahl-Sonntag niemand im Haus einen Schlüssel hatte. "Vieles hängt nach meiner Erfahrung davon ab, wie aktiv sich die Heimleitungen im Vorfeld kümmern", sagt Leopold.

Pflegeheime können sich im Vorfeld kümmern

Die Möglichkeit dazu haben sie: "Wir schreiben rund acht Wochen vor den Wahlen immer alle Leitungen von Pflegeeinrichtungen mit einem umfangreichen Hinweisschreiben und Plakaten zur Briefwahl an", sagt Janssen vom Wahlamt. Dabei werde auch auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Häuser in Form von Sammelbestellungen Briefwahlunterlagen für alle anfordern können. Dafür tragen sich die Bewohner einfach in Listen ein. Das Wahlamt bringt dann die Briefwahlunterlagen per Bote direkt in die Heime. "Es macht aber einen Unterschied, ob so eine Liste einfach aushängt oder Pflegekräfte die Bewohner direkt dazu ansprechen", kommentiert Leopold.

Wenn mehr als 50 Wahlberechtigte einer Pflegeeinrichtung an der Wahl teilnehmen möchten, könnten laut Wahlamt sogar bewegliche Wahlvorstände kommen, die dann in der Pflegeeinrichtung die Stimmabgabe ermöglichen. So etwas gab es bei der Europawahl etwa im Johanniterhaus in Bremen-Horn.

Das Haus von Barbara Schimpf in Findorff hat hingegen keine dieser Möglichkeiten genutzt.
Quelle: https://www.weser-kurier.de/bremen/politik/bremer-pflegeheim-und-das-wahlrecht-ein-schwieriger-fall-doc7vysfbloyjk15ctxg21l